12. November ...

(Auf einer Bank an der Isar)

 

Kurzgeschichte

von Colin Vaupel

 

  

Karsten Fieger hatte seinen alten grauen Armanimantel angezogen, den grauen Hut aufgesetzt und sein Bürogebäude verlassen. Es war kalt, schließlich schrieb man schon den 12. November.  

Er schlug den Mantelkragen hoch und ging auf seinen grauen Wagen zu. Sein Chauffeur erwartete ihn bereits an der hinteren geöffneten Tür. Karsten Fieger war schon fast eingestiegen, als er es sich auf einmal anders überlegte. "Machen sie sich einen schönen Nachmittag, Müller, ich brauche sie heute nicht mehr." Dann ging er, ohne noch ein Wort zu verlieren, zu Fuß weiter.

Er wollte laufen, wollte mit dem Nebel eins werden, wollte vor allem nicht nach Hause. Nicht dass er kein schönes Heim gehabt hätte. Im Gegenteil. Er nannte eine große Jugendstilvilla  in Grünwald sein Eigen. Hausdame, Köchin und Gärtner kümmerten sich um seine privaten Belange. Heute aber wollte er von alledem nichts wissen. Es war sein Geburtstag. Der Fünfundfünfzigste und niemand sollte ihm zu diesem Ereignis gratulieren. Mittags hatte er eine kleine Feier für seine Angestellten gegeben, das war nicht zu umgehen, aber ansonsten - nun ja, er wollte halt allein sein.

Er bog auf dem Hochuferweg ab und schlenderte an der Isar entlang. Hin und wieder hörte er das Platschen das entstanden war, als ein Fisch zurück ins Wasser plumpste, oder das Knacken der kleinen Äste unter seinen Füßen. Irgendwann setzte er sich auf eine Parkbank und grübelte vor sich hin. In Gedanken ging er die letzten dreißig Jahre noch einmal durch. Es war viel geschehen und doch nichts Entscheidendes in seinem Leben.

 Er dachte daran, dass sich der Umsatz seiner Firma verzehnfacht hatte, dachte daran, dass man ihn in der Geschäftswelt als einen cleveren Mann achtete. Das war die eine Seite seines Lebens. Aber ihn kümmerte an diesem Nachmittag auch an die andere. Hatte er jemals an sich selbst gedacht? Warum hatte er sich nie die Zeit genommen, einmal auszugehen, vielleicht doch eine Frau zu finden, die das Leben mit ihm gemeinsam verbringen hätte können.

Karsten Fieger zündete sich ein Zigarette an und inhalierte den Rauch tief ein. Von Minute zu Minute wurde er ihm bewusster, dass ihm etwas fehlte. Ihm kam in den Sinn, dass er sich eigentlich gerne für jemanden verantwortlich fühlen würde. Sicher, da waren 120 Angestellte in seinem Musikverlag. Menschen, die von ihm und seinen nicht immer leicht zu fällenden Entscheidungen abhängig waren. Nein, das war es nicht, über das er nachdachte, er wollte rein privat für jemanden Verantwortung übernehmen, wollte jemanden in seinem Leben wissen, mit dem er sich gemeinsam über seine Erfolge, über seinen Wohlstand freuen konnte. Ja, ihm fehlte ein Mensch, der ihn wirklich brauchte, für den er Entscheidungen treffen durfte, dem er mit Rat und Tat zur Seite stehen konnte. Einen Menschen, dem er helfen konnte, wenn dieser seine Hilfe benötigte.

Vor einigen Wochen war er, während einer Geschäftsreise nach London, von einem Geschäftsfreund zum Essen eingeladen worden. Und als er jetzt, auf seiner Parkbank sitzend, an diese Begebenheit  zurück dachte, wurde ihm immer bewusster, was ihn damals so sehr beeindruckt hatte.

Das Zuhause seines Partners.  

Die Villa in Wimbledon war vielleicht nicht schöner als seine eigene, aber das was alles viel schöner erscheinen ließ, waren die Menschen, die darin lebten. Da war die Ehefrau, die mit sehr viel Geschick und Geschmack eine zauberhafte Atmosphäre in allen Räumen geschaffen hatte.. Da waren aber auch die zwei Töchter, Dinah und Julia, die der Mutter zur Seite standen. Es war einfach eine Idylle.

An all das dachte er und ihm wurde immer klarer, dass ihm dieses Glück irgendwie fehlte. Früher da hatte er nie solche Gedanken gehabt. In seinem Kopf schwirrten nur Zahlen, Bilanzen, Verträge, Musikkataloge. Und noch eines kam ihm auf einmal in den Kopf. Für wen tat er denn das alles? Nur für sich selbst?! Er konnte, wenn es einmal soweit sein sollte, nichts mitnehmen. Der Staat, das Finanzamt, gegen das er schon so manchen bitteren Kampf geführt hatte, würden den größten Teil schlucken.

Mit dem mal, hell mal dunkelroten Punkt vor seiner Nase überließ er sich dem Fluss seiner Gedanken.

Es war der Abend des 12. November.

 

*** 

 

Theresa Mohr: Sie hatte gerade 10 Stunden Probearbeit im Theater hinter sich. Sie war Schauspielerin, fünfunddreißig Jahre alt und  bisher eigentlich nur für das Theater auf dieser Welt gewesen.

Zur Zeit hatte sie große Probleme mit einem neuen Stück. In wenigen Wochen schon sollte die Uraufführung sein. Der Regisseur hatte ihr eine Rolle zugedacht, die eigentlich nicht in ihr Fach passte. Im Grunde war sie ein lustiger Typ, privat, und so bevorzugte sie eigentlich auch auf der Bühne nur Rollen, die in irgendeiner Weise zu ihrem lebensfrohen Charakter passten. Der Regisseur aber meinte, der Part der lebensmüden Melanie B. würde nur zu ihr passen.

Nun ja, Theresa Mohr war nicht so bekannt wie Hannelore Elstner, also hatte sie sich zu beugen. Da Theresa nun auch ein sehr gründlicher Mensch war, ein Mensch, der nichts dem Zufall überließ, war hartes Rollenstudium für sie angesagt. Sie versuchte sich vorzustellen, wie sich ein Mensch benimmt, der mit dem Leben abgeschlossen hat. Sie war in einigen Nervenkliniken gewesen, hatte versucht dort mit einigen Patientinnen über deren Probleme zu reden, hatte versucht, sich in diese armen Menschen hineinzudenken. Gespräche mit Psychotherapeuten und Psychiatern, das Studium einiger Krankengeschichten rundeten ihr Bild bereits etwas ab.

An einem Novemberabend, es war der Abend des 12., ging sie allein an der Isar spazieren. Sie versuchte sich dabei in eine traurige, depressive Stimmung zu versetzen, versuchte, sich innerlich mit dieser Melanie B. zu identifizieren, versuchte mit einer Frau in seelischen Gleichklang zu kommen, die ins Wasser gegangen war.

Theresa Mohr sollte das Leben der Melanie B. spielen. Die Rolle einer Frau, die im Leben immer sehr erfolgreich gewesen war, die für ihren Erfolg sehr hart hatte kämpfen müssen, die es aber trotz aller Tiefschläge immer wieder geschafft hatte, ganz oben zu sein. Auf einmal war Melanie B. dreißig Jahre alt geworden und glaubte plötzlich am Leben vorbei gegangen zu sein. Sie verfluchte das große Frauenthema "Emanzipation", hatte Angst, immer nur die tüchtige Geschäftsfrau bleiben zu müssen und nie auch nur einmal für ein paar Stunden oder gar Tage Frau sein zu können.
Eine Frau, die sich an ihren geliebten Mann anlehnen, die sich einmal von ihm verwöhnen lassen könnte, eine Frau, die gerne einmal einen Mann so richtig verwöhnen könnte. Einmal in ihrem Leben würde sie gerne mehr als nur ein Abenteuer erleben.  

Diese Frau hatte viele Onenightstands erlebt, solche, die es nicht wert waren, aber auch solche, die sie nie vergessen würde, weil sie einfach zu schön gewesen waren. Was ihr aber nie widerfahren war in all den Jahren, war das ehrliche Gefühl, das man wohl allgemein Liebe nennt. Einmal nur wäre sie gerne wirklich glücklich gewesen, zufrieden an der Seite eines Mannes, der für sie sorgen wollte, dem sie ihr Leben anvertrauen  könnte.

Melanie B. wollte nicht vorzeitig in Pension gehen, sie wollte auch nicht alle Verantwortung loswerden, sie auf einen getreuen Ehemann abschieben, aber sie wollte auch nicht mehr diesen ständigen Lebenskampf mit sich allein austragen.

Diese Rolle sollte Theresa Mohr nun spielen und sie freute sich darauf, steckte bereits richtig in ihr drin. Plötzlich wurde ihr sogar bewusst, dass ihr diese neue Rolle fast so etwas wie auf den Laib geschrieben war. Sicher, sie war nicht reich wie diese Melanie B., aber genauso alt und genauso in ihren Beruf vertieft wie sie. Und genauso wenig wie es einen Lebenspartner im Leben dieser Melanie B. gab, gab es jemanden in ihrem eigenen. Bei diesen Gedanken steckte sich Theresa Mohr eine weitere Zigarette an. Mit dem hell und dunkelroten Punkt vor ihrer Nase überließ sie sich dem Fluss ihrer Gedanken.

Es war der Abend des 12 . November.
 

Nachwort.

Ich weiß nicht , ob Theresa Mohr das glutrote Glimmen, das hin und wieder  neben ihr aufleuchtete,  überhaupt bemerkt hat. Aber ich würde es ihr von Herzen wünschen. Genau so, wie ich es auch dem neben ihr sitzenden 50 jährigen Geschäftsmann wünschen würde.

Colin Vaupel

Geschrieben irgendwann an einem 12. November, an meinem 45. Geburtstag, und wieder gelesen ein paar Tage vor meinem 50.